Ev.-Theol.-Seminar T&uumlbingen

Eberhard-Karls-Universität Tübingen
Evangelisch-theologische Fakultät
Kommentiertes Vorlesungsverzeichnis Wintersemester 1996/97


Vorwort des Dekans

Liebe Kommilitoninnen und Kommilitonen,

was soll man im Winter in Tübingen tun? Über die rauhe Alb weht ein nasser Wind, im Schönbuch tropft der Regen von kahlen Bäumen. Kein Stocherkahn fährt auf dem lustlos dahinfließenden grauen Neckar, kein Vogel singt, keine Mostbowle gibt's in Schwärzloch, ›leer steht von Trauben und Blumen / und von Werken der Hand ruht der geschäftige Markt‹, die Menschen haben Schnupfen etc. Da bleibt nur eine Alternative: Auswandern in Gefilde südlich des Alpenhauptkamms, oder Theologie studieren.

Ich rate Ihnen, Theologie zu studieren! Das ist das vielseitigste Studium und, wenn man's ernst nimmt, eines der anspruchsvollsten und schönsten. Geschichte und Philologie, Exegese und systematisch-theologische Anstrengung, Philosophie und Menschenkunde gehören dazu und vieles mehr. Man muß sich auf dem so vielseitigen Feld orientieren: Dem dient, für das kommende Wintersemester, dieses Heft, das Sie, nebst den Autoren, wieder sorgsamer studentischer Gestaltung verdanken. Nachdrücklich erinnere ich daran, daß Ihre Mitarbeit im Studium nötig ist. Niemand diktiert Ihnen die Wahrheit; die Mühe darum ist ein gemeinsames Geschäft. Daß Dozenten dafür einen Vorsprung an Erfahrung und Wissen mitbringen, dürfen Sie erwarten, aber ebenso, daß sie im Gespräch mit Ihnen noch etwas lernen.

Um nicht weniger als die Wahrheit geht es. Ich will Ihnen die wiederkehrende und etwas mürrische Rede alter oder junger Kommilitonen nicht vorenthalten, für die Praxis sei all das, was man an der Fakultät lernt, nichts nütze. Einem so oberflächlichen Murrwort kann man nicht widersprechen: In der Tat bekommen Sie hier - selbst in der Praktischen Theologie - eine vorwiegend theoretische Ausbildung. Aber gerade die werden Sie in der Praxis bitter nötig haben, Tag für Tag, wo immer Sie Auskunft geben sollen über die theologische Wahrheit, die uns anvertraut ist. Angesichts immer drängenderer Fragen ist Ihnen mit Gebrauchsanweisungen nicht oder nur kurzfristig geholfen.

Um die Wahrheit muß man sich lebenslang mühen, und man muß sie sagen lernen. »Philologie« könnte ein Grundbegriff dafür sein: Liebe zum Logos des Denkens, zur Sprache der Texte, in allem die Liebe zum Wort. Ceterum censeo: Nichts Wichtigeres bleibt Ihnen als das Wort - pflegen Sie es, lesen Sie die Bibel und die Dichter. Hüten Sie sich vor dem Nichtwort, dem Geschwätz; besonders vor dessen schlimmster Form, dem frommen Geschwätz.

Braucht man Mut, um heute Theologie zu studieren? Ja, aber nicht erst heute. Denken Sie nicht, die vorigen Theologengenerationen hätten das Studium der schönen Pfründe wegen betrieben. Anstrengend war es immer. Gegen Langeweile (wo bliebe sie ganz aus!) kann man einiges tun. Frühere Generationen wußten mehr oder weniger, was als Beruf auf sie zukommen würde. Sie brauchen heute mehr Phantasie und Beweglichkeit. Aber wer, wenn nicht Sie, sollte Mut und Anstrengung und Phantasie mitbringen?

Ich wünsche Ihnen ein glücklich-anstrengendes, ertragreiches Semester!

Tübingen, am 9.6.1996

Hans-Jürgen Hermisson, Dekan

PS: Manchmal hat der Neckar eine tragfähige Eisdecke, gibt es gute Musik in Tübingen (›aber das Saitenspiel‹), findet man Freunde im Winter etc. Und die christliche Gemeinde bleibt!


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Autor der HTML-Version: Uwe Ernst Bilger(ubilger@ix.urz.uni-heidelberg.de) - 22. Juli 1996

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